J. Marjanen u.a. (Hrsg.): Contesting Nordicness

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Titel
Contesting Nordicness. From Scandinavianism to the Nordic Brand


Herausgeber
Marjanen, Jani; Strang, Johan; Hilson, Mary
Reihe
Helsinki Yearbook of Intellectual History (2)
Erschienen
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 66,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Mörke, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität Kiel

In neun Artikeln nähern sich die zehn Autor:innen des Bandes „Contesting Nordicness“ einem im einleitenden Beitrag präzise umrissenen Themenkomplex: Um das Jahr 2010 sei, so die Initialbeobachtung der Herausgeber:innen, „a new rhetoric of Nordicness“ entstanden, die noch der wissenschaftlichen Diskussion harre (S. 1). Der Titel des Bandes markiert den zeitlichen Rahmen, dem sich diese Diskussion zuzuwenden habe. Mit der zwischen den 1840er-Jahren und dem späten 19. Jahrhundert politisch-kulturelle Wirkmacht entfaltenden Vereinigungsbewegung des Skandinavismus und dem vornehmlich ökonomisch ausgerichteten nation branding des 21. Jahrhunderts werden die chronologischen und inhaltlich systematischen Eckpunkte gesetzt.

Das ist einerseits gut begründet und folgt auch arbeitsökonomischer Zweckmäßigkeit. Andererseits wäre ein unter der Frage nach der Rhetorik von Nördlichkeit(en) stehender Beitrag zum von Nordbildern strotzenden dänischen und schwedischen Protonationalismus der frühen Neuzeit auch im vorliegenden Kontext hilfreich, weil erklärungsanreichernd gewesen. Dies ist freilich nicht im Sinn des Hinweises auf ein Manko, sondern vielmehr auf die horizonterweiternde Anknüpfungsfähigkeit des Themas zu verstehen.

Die räumliche Konzentration auf die skandinavischen Länder inklusive Finnlands folgt zwar gängigen politischen und kulturellen Eingrenzungen des europäischen Nordens und damit einem inhaltlich wie pragmatisch gerechtfertigten Kriterium. Gleichwohl ist man sich, wie Jani Marjanen, Johan Strang und Mary Hilson in ihrem Einleitungsbeitrag hervorheben, durchaus der das Nordverständnis beeinflussenden historisch-kulturellen Bezüge – etwa zu den baltischen Ländern – sowie der mit anderen kleinen oder mittelgroßen Ländern – wie den Niederlanden, der Schweiz, Neuseeland und Schottland – gemeinsamen politisch-strukturellen Charakteristika bewusst. Überdies seien, so die Herausgeber:innen, zahlreiche kulturelle, religiöse und politische Traditionen im Norden deutschen Ursprungs, während sich freilich die Orientierung der Region seit dem Zweiten Weltkrieg auf die anglo-amerikanische Welt verlagert habe (S. 2).

Die Andeutung solcher Perspektivenerweiterungen weist auf das transregionale und transnationale Potenzial hin, das dem Thema Nordicness innewohnt: Es ist eben nicht nur für die klassische Nordeuropaforschung interessant. Vielmehr strahlt es gerade auch in den deutschen kulturwissenschaftlichen Forschungskontext aus. Dass zum Beispiel die Nordlandbegeisterung Wilhelms II. und das nationalsozialistische Rassekonzept als spezielle Kalibrierungen weit verbreiteter Nördlichkeitsdiskurse ihre Wirkmacht entfalteten, deutet in diese Richtung, auch wenn das in dem Band nicht explizit angesprochen wird. Vielmehr wird im einleitenden Beitrag auf einen scheinbar gegenteiligen Effekt hingewiesen, dass nämlich im skandinavisch geprägten Selbstbild der dänischen und schwedischen Monarchien im 19. Jahrhundert Wert auf die Differenz zu anderen nordeuropäischen Mächten wie Preußen und Russland gelegt wurde und dass man sich seit den 1930ern, besonders nach 1945, als das positive „Andere“ gegenüber deutschem oder europäischem Konservatismus definierte (S. 10f.). In der Zusammenschau wird man dies freilich als die zwei Seiten einer spannungsreichen Inklusions- und Exklusionsrhetorik werten müssen, welche zu einem guten Teil die Virulenz der Nördlichkeitsdiskurse in Europa ausmachen.

Der die Beiträge ummantelnde methodische Rahmen tut ein Übriges für deren Anschlussfähigkeit an verwandte Forschungsfelder. Er sieht sich in der Tradition der Koselleck’schen Begriffsgeschichte. Alle Autor:innen machen sich, mehr oder weniger explizit, diese Vorgabe fruchtbar, ohne sich indes in ein argumentatives Prokrustesbett pressen zu lassen. So wird ein flexibler Leitfaden ausgelegt, der es den Autor:innen ermöglicht, ihre Beiträge in ein inhaltliches Spannungsfeld einzupassen, das dem Titel Contesting Nordicness gerecht wird, ohne deren jeweiligen Eigencharakter aufzugeben. Das gelingt Sammelbänden in so seltenen wie glücklichen Fällen!

Zu Recht wird nicht nur im Eingangsbeitrag darauf hingewiesen, dass sich schon im Skandinavismus des 19. Jahrhunderts die Austauschbarkeit von „nordischer“ und nationaler Rhetorik zeige, die im politischen Diskurs anscheinend kontradiktorische Instrumentalisierungen zulasse. Die zwischen transnationaler Exzeptionalität des „Nordischen“, das hier eben für das „Skandinavische“ steht, und Tendenzen zu nationaler Monopolisierung „nordischer“ Qualitäten oszillierende Begrifflichkeit beschränkt sich freilich nicht auf den engeren skandinavistischen Diskurs, wie der Beitrag von Ruth Hemstad belegt. Vielmehr prägt sie langfristige Entwicklungen in etlichen Feldern politischer Rede unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen auch über den skandinavischen Raum hinaus. So geschehen etwa im deutschen und amerikanischen „Rassediskurs“ in der Periode zwischen den Weltkriegen, den Merle Weßel untersucht. Das „Nordische“ geriet dort zum Kern von Überlegenheitstopoi, die auf die räumliche Projektionsfläche Skandinavien orientieren, die man sich gleichsam normativ einverleibte.

Zum argumentativen Hintergrund für die Debatte um eigene Befindlichkeit wird das politisch-gesellschaftliche ‚Nordic Model’ spätestens seit den 1980ern im Vereinigten Königreich. Mary Hilson und Tom Hoctor identifizieren in den skandinavischen Ländern der 1990er-Jahre zunächst eine Zäsur in Gestalt des Abschieds von der festen Verbindung des Wohlfahrtsstaatsmodells mit sozialdemokratischer Politikdominanz, um dann den Reflex in den politischen und akademischen britischen Debatten im komplexen Zusammenspiel von Auto- und Xenostereotypen zu analysieren. Dass solcherart Internationalisierung der Diskussion um das „Nordic Model“ ihrerseits wieder auf die politische Rhetorik und Praxis in Skandinavien selbst zurückstrahlt, unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit, das Forschungsfeld Nordicness nicht auf den skandinavischen Raum zu beschränken, sondern interregionale Interaktionsmuster einzubeziehen.

Johan Strang nimmt dies in seiner Untersuchung zur Rhetorik der „Nordic Cooperation“ in den Debatten des Nordischen Rates seit dessen Gründung 1952 auf. Im Sinn Kosellecks entfaltet Strang die europäische Integration und den Entwicklungsprozess jener nordischen Kooperation als „asymmetric counter-concepts“ (S. 104). Die Abfolge von rhetorischen Annäherungs- und Distanzierungsphasen münde schließlich in der jüngsten Vergangenheit in einem rhetorischen Konzept, das sich in Skandinavien von konkreten politischen Zuschreibungen jener Kooperation weg zu einem enthistorisierenden Branding entwickle, das nicht mehr jene Kooperation selbst in den Mittelpunkt des Narrativs stelle, sondern eine inhaltlich nahezu beliebig füllbare primordiale Nordicness.

Pirjo Markkola widmet sich mit der „Nordic Gender Equality“ einer greifbaren Form der normativen Selbstverortung der skandinavischen Länder – und der Region insgesamt – im europäischen und globalen Kontext. Seit den 1970er etabliert sich das Konzept der (Geschlechter-)Gleichheit in Skandinavien an zentraler Stelle der sozialpolitischen Begrifflichkeit. Es bietet in seiner konkreten Fassbarkeit eine Möglichkeit, die Region in einem Kernfeld des internationalen politischen Diskurses als Vorreiterin und als Vorbild zu positionieren. Ob dies als Branding zu bezeichnen ist, wie dies der Beitragstitel tut, mag man freilich hinterfragen, wenn darunter im engeren Sinn eine bloß sloganhafte Marketingstrategie verstanden wird.

Vielleicht vermeidet auch deshalb Tero Erkkilä in seiner Abhandlung über „Transparency and Nordic Openess in Finland“ diesen Begriff. Vielmehr charakterisiert er die gewissermaßen regierungsamtliche Betonung der Transparenz politischer Entscheidungsprozesse – nicht zuletzt als Teil einer lange währenden normativen Tradition – als wirksame rhetorische Strategie politischer Entscheidungsträger zur Markierung einer positiven Eigenheit Finnlands in internationalen Kontexten.

Zielgenau trifft der Begriff des Brandings indes die Themen der beiden letzten Studien. Lily Kelting widmet sich mit der „New Nordic Cuisine“ einer hochpreisigen Gastronomieszene, die sich seit den frühen 2000er-Jahren in den skandinavischen Ländern etabliert hat. Die Instrumentalisierung archaischer Nordstereotypen im Dienst eines im Wortsinne exklusiven und letztlich sozial exkludierenden Marketingkonzeptes arbeitet die Autorin luzide heraus. Indem sie explizit hervorhebt, dass „class exclusion [...] the real engine behind New Nordic discourse“ sei (S. 194), führt sie eine Analysekategorie in das große Thema Nordicness ein, deren Stichhaltigkeit man auch an manch anderem Teilthema des Bandes hätte austesten können.

Jakob Stougaard-Nielsen wendet sich abschließend einem in den letzten Jahrzehnten besonders erfolgreichen Genre des Nordic Brandings zu, der skandinavischen crime fiction in Literatur und Film. Besonderes Augenmerk schenkt er deren Rezeption im Vereinigten Königreich. Er thematisiert dabei eine boreal nostalgia, die in Großbritannien angesichts eigener gesellschaftlicher Verwerfungen die skandinavischen Länder einerseits als das positive Andere erscheinen lässt, andererseits dies gerade durch den dystopischen Charakter des literarischen Stoffes an das Eigene zurückbindet. Es sei „a reciprocal longing for a North that was never one’s own“ (S. 218).

Eine Feststellung, die auch den Band insgesamt beschließen könnte. Die Herausgeber:innen betonen, dass es ihnen darauf ankomme, der historischen Dimensionen der gegenwärtigen Rhetorik des „Nordischen“ nachzuspüren, um einen Kenntnisvorrat anzulegen, der es zukünftig erleichtert, „the triggers, logics, and historical layers of the rhetoric of Nordicness in various parts of the world“ zu verstehen (S. 33). Die gegenwärtigen Versuche rechtspopulistischer und -radikaler Parteien nicht nur in skandinavischen Ländern, Topoi des Selbst- und Fremdverständnisses vom internationalen Vorbildcharakter des skandinavischen Wohlfahrtsstaates, verkörpert etwa im schwedischen Begriff vom folkhem, nationalistisch-xenophob umzudeuten und zu okkupieren, zeugen von der Aktualität des Anliegens dieses höchst anregenden Bandes.